
VOGELSBERG (ol). Die Frage nach Fluchtursachen und deren Bekämpfung sei eines der bestimmenden Themen der Zeit. Doch nicht nur deshalb sei am Donnerstag vergangener Woche die evangelische Kirche in Nieder-Gemünden am Abend voll bis unters Dach gewesen. Kein Geringerer als Harald Lesch, der ganzen Nation bekannt aus seiner Fernsehsendung „Leschs Kosmos“ sei, sei auf Einladung der Flüchtlingsinitiative Gemünden in die alte Heimat gereist, um gewohnt locker, doch mit Nachdruck und Tiefgang, über dieses schwierige Thema zu referieren.
Wie es in der Pressemeldung heißt, begrüßte Rainer Lindner, vom Veranstaltungsteam, hocherfreut den gebürtigen Nieder-Ohmener, der seit vielen Jahren an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehre und der sich in vielen Themen – auch jenseits seiner naturwissenschaftlicher Kernfächer – zuhause fühle. Dennoch startete er seinen Vortrag – mit Erlaubnis der Pfarrerin auf der Kanzel der Kirche – mit einer ersten Desillusionierung: „Sie werden heute Abend keine Lösungen mit nachhause nehmen“, kündigte der Redner an, der sogleich in medias res ging: „Wir Europäer leben auf einem Glücksfall von Kontinent“, machte er deutlich: Rechtssicherheit und das Vorhandensein lebensnotwendiger Infrastruktur machten das Leben der Europäer so sicher und risikoarm wie nie.
Er könne sich nicht erklären, warum so viele Menschen dies nicht sähen, warum es ein Thema – das Flüchtlingsthema – geschafft habe, den Wahlkampf so sehr zu beherrschen, und wie es zu den Erfolgen für die Populisten kommen konnte. „Niemand verlässt seine Heimat freiwillig“, hatte Lesch zu bedenken gegeben. Selbst für ihn als Vogelsberger in München sei es nicht einfach, fügte er augenzwinkernd in seiner humorvollen Art hinzu, an diesem Abend immer wieder angereichert durch seinen nicht verlernten Vogelsberger Zungenschlag, was ihn vielen Anwesenden, die ihn ohnehin von früher noch kannten, einmal mehr sympathisch machte. Er sprach über das, was Heimat sei, dass sie dort sei, wo einen alle kennen, wo man sich wohlfühle und auskenne. Wo man die Sitten und die Sprache kenne und verstehe.

Ein Mann, der alles weiß, aber dennoch sympathisch bleibt und die Hoffnung nicht verliert: Prof. Dr. Harald Lesch. Foto: Traudi Schlitt
Problematisch sehe er, dass die Lebensbereiche solidarischen Zusammenlebens geringer werden, dass viele Dinge nur noch monetarischen Wert haben und dass der Egoismus die neue Art sei, Politik zu machen, etwa wenn der frischgewählte österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz ankündige: „Ich mache die Mittelmeerroute dicht.“ Wie absurd aus naturwissenschaftlicher Sicht die Idee sei, ein Meer schließen zu wollen. Sich zu geben, als habe man dazu das Recht und die Fähigkeit, sei schlicht und einfach grenzenlos egoistisch, umso schlimmer, dass die Wähler es ihm offenbar zutrauten, sei Lesch deutlich geworden.
Klimawandel als Fluchtursache Nummer eins
Als Fluchtursachen machte der Redner viele Aspekte aus: Krieg, Vertreibung, Umweltkatastrophen, Armut. Dass an vielen dieser Ursachen in der Welt außerhalb Europas Deutschland und Europa nicht unschuldig seien, verdeutlichte er an den Beispielen der Waffenexporte aus Deutschland und auch der Exporte von Lebensmitteln in afrikanische Länder, die dort Teile der heimischen Landwirtschaft zerstörten. Fluchtursache Nummer Eins, also auf der Liste noch weit vor Krieg angesiedelt, sei der Klimawandel, sagte Lesch weiter. Laut einer Studie von UNHCR seien derzeit 25 Millionen Klimaflüchtlinge unterwegs, ein Anstieg auf 200 Millionen in der nahen Zukunft würde als realistisch angesehen.
Und dann sprach der Physiker und erklärte den über zweihundert Zuhörern anhand mitgebrachter Schaubilder den rasanten Anstieg der CO2-Konzentration seit 1850. Bis vor etwa dreißig Jahren seien die Veränderungen marginal gewesen, seither aber so hoch wie nie, führte Lesch aus und erläuterte den Zusammenhang von CO2-Konzentration, Erderwärmung, Eisschmelze, Wasserausdehnung und Naturkatastrophen. Ein Par-Force-Ritt durch Geschichte und Ursachenforschung mit unverhohlener Kritik an den politisch Verantwortlichen, die aus alldem, was Wissenschaftler zuverlässig erforscht hätten, keinerlei zielgerichtete Konsequenzen ziehen.
„Egal, was wir tun oder lassen, die Erde expandiert nicht, wir haben keinen zweiten Planeten in der Schublade“, so der eindringliche Appell des Wissenschaftlers und Naturphilosophen, der allein anhand der Wetterphänomene in diesem Jahr deutlich machte, dass die Naturkatastrophen unserer Zeit menschengemacht seien – und damit auch eine Fluchtursache, der das Potenzial zugetraut werde, bis zum Jahr 2100 zwei Milliarden Menschen auf den Weg zu bringen: „Wenn man nichts mehr zu essen hat und keinen Wohnraum mehr, dann wird man gehen.“ Dabei wies er noch einmal darauf hin, welchen Risiken sich Menschen aussetzen, die ihre Heimat verlassen, aber: „Es werden immer weiter und weiter Menschen kommen.“
„Die Verantwortung liegt allein beim Menschen“

Rainer Lindner von der Flüchtlingsinitiative Gemünden freute sich sehr über den Besuch von Prof. Dr. Harald Lesch. Foto: Traudi Schlitt
Dass die Folgen des Klimawandels am Ende auch Europa nicht verschonen werden, sehe man daran, dass bereits jetzt Teile des Kontinents wie die Iberische Halbinsel von klimabedingten Waldbränden erschüttert seien. Sein Fazit nach den vielen ernüchternden Fakten: „Die Verantwortung liegt allein beim Menschen“. Lesch forderte eine „Vollbremsung für das Klima“ – jeder Tag, an dem nichts passiere, mache es nur noch schlimmer. Dabei sei nicht nur die Politik gefragt, sondern jeder Einzelne: mit seinen Kaufentscheidungen, mit seinen Reisewegen und Transportmitteln, mit seiner Haltung gegenüber Flüchtlingen, auch mit seiner Haltung zu alternativen Energien. „Natürlich kann man immer fragen, was es nutzt, wenn die USA, China oder auch die EU ganz andere Politik machen, als es nötig wäre, doch für das, was dort passiert, sind wir nicht verantwortlich, nur für das, was wir selbst tun oder eben nicht tun.“
Der Vortrag von Harald Lesch sei gleichzeitig intensiv und unterhaltsam gewesen, nachhaltig, voller Informationen, voller unschöner Tatsachen, und dennoch nicht hoffnungslos. Denn tief in seinem Inneren sei Lesch doch Optimist, der glauben möchte, dass die Menschen es noch rumreißen. Zum Ende seines Vortrages auf der Kanzel teilte er noch eine seiner Lieblingsstellen der Bibel mit seinem Publikum: Das Hohelied der Liebe aus dem ersten Korintherbrief. Auch damit kenne er sich offenbar aus.
Der Beitrag Die Verantwortung trägt jeder selbst erschien zuerst auf Oberhessen-Live.